Die Jury des Literaturpreises der Jürgen Ponto-Stiftung ist sich einig: Ein Buch dieser Kraft und Härte lässt nichts und niemanden hinter sicheren Linien zurück. Kim de l`Horizon hat mit Blutbuch etwas eingelöst, das zu den großen Versprechen der Literatur gehört, ein neues Sternbild für alte Muster und erstarrte Positionen. Blutbuch verschiebt Wahrnehmungen, pulverisiert Vorurteile, entsichert das Mitgefühl. Und es folgt und bricht wie alle Kunst, die voran will, Regeln. Hier ist ein hoch aufgeladenes 300-seitiges Werk zu entdecken, von dem Kim de l`Horizon sagt, es zu schreiben hätte zehn Jahre gebraucht. Zu lesen ist es wie ein Blitzschlag. Vieles von dem, was moderne Gesellschaften jetzt gerade bis auf die Musikantenknochen durchdeklinieren, findet hier formal und inhaltlich zu überzeugenden Transformationen. In einem Moment schroff, im nächsten opulent, plötzlich vulgär, distanzlos, dann irrlichternd. Immer aber um unsere Fragen kreisend nach Selbstbestimmung, nach Privatheit, nach unseren Körpern, nach Herkunft, Fügung, Vorbestimmung, Familie, Sex und Verzeihung.
Kim de l`Horizon zeigt den Körper in aufwühlender Weise als Gefängnis, als Fremdding, als Eroberungsfläche und sagt von sich, „aber ich wusste schon immer, ich komme nicht von hier, ich komme vom Horizont. Und von dort, vom Rand der Sichtfelder her bringe ich Blutbuch.“ Eine Form des Schreibens galt es zu finden, die de l`Horizon écritures fluides nennt. Die Sprachen, Töne, Formen und Zustände in diesem kaum zu übertreffenden Debüt sind tatsächlich selbst fließend, mitunter reißend, stromgeschüttelt. Und mittendrin stehen zwei große Frauenfiguren: Mutter und Großmutter.
Blutbuch ist also Familienalbum und es ist das zersetzende Gegenbuch dazu, eine der Biografie abgerungene Fibel des Klassismus, der Queerness, der Transidentität und Nichtheterosexualität. „Ich habe mich an einigen Schichten meiner Anverwandtschaften versucht. Und in diese Versuche habe ich Hexensprüche hineingeflüstert. Denn ich glaube an die écritures fluides als eine winzige verqueere superpower,“ sagt Kim de l`Horizon. – Und ja, das ist es auch, ein Buch der Superkräfte, der Superheldinnen. Es kommt mit einem rettenden Moment, wie die Jury, bestehend aus dem Fachkurator der Jürgen Ponto-Stiftung Hauke Hückstädt, der Autorin Elisa Diallo und der F.A.Z.-Feuilletonistin Melanie Mühl, meint. Dieses Debüt könnte die Menschen bewegen wie zuletzt die großen Bekenntnisstexte von Eduard Louis, Annie Ernaux, Daniel Schreiber oder Hanya Yanagihara.
Der Preis wird am 3. November 2022 im Literaturhaus in Frankfurt am Main verliehen.
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